"BOUYON RASIN"
Roots Soup

von Gage Averill


LINERNOTES DER CD BOUYON RASIN /Tropical Music CD 68988

Bouyon Rasin bedeutet "Wurzel-Suppe" - ein Name, der von Mapou Prodoctions für ihr erstes "jährliches" Festival der haitianischen roots Musik gewählt wurde, das vom 28. - 30. Juli 1995 in Port-au-Prince, Haiti, stattfand.

Ich kam wegen des Festivals nach Haiti zurück und auch, um der Unterzeichnung der Berner Konvention durch Präsident Aristide beizuwohnen. Doch als ich die Tore des Palastes erreichte, hatten die Wachen nie von der Zeremonie gehört, und Aristide war nicht in der Stadt, sondern im Norden Haitis, wo er um die Stimmen von Vodou-Anhängern auf ihrer großen Wallfahrt warb, nachdem er deren Priester und Priesterinnen einen Woche zuvor zu einer Zusammenkunft in den Palast geladen hatte. Diese Art des Durcheinanders ist in Haiti an der Tagesordnung, und in gewisser Weise erwarte ich immer, daß Pläne sich ändern.

So wanderte ich in den Tagen vor dem Festival in Port-au-Prince herum, besuchte Freunde und bekam ein Gespür von den Veränderungen, die sich nach dem Embargo und der Invasion vollzogen hatten.
Der Handelsverkehr hat sich verbessert, und wesentlich mehr Geld kursiert im Land. Die Arbeitslosigkeit ist unglücklicherweise noch immer auf einem unerträglichen Niveau und beinahe in jedem Gespräch, das ich mit den Menschen auf der Straße führte, wurde unvermeidlich der Mangel an Arbeitsplätzen zum Thema.

Gelegentlich, wenn bewaffnete Konvois ihre Runden drehen oder Helikopter über die blechernen Dächer der Stadt schwirren, ist die Präsenz des internationalen Militärs überdeutlich. Einige wenige Verbesserungen können auch direkt dem Militär zugeschrieben werden, wie der Ausbau der Müllabfuhr (wo sind bloß die Moskitos geblieben?) und die Erweiterungen einiger Krankenhäuser und ähnlicher Dinge. Doch die haitianische Haltung der fremden Besatzung gegenüber ist alles andere als einhellig. Viele beschuldigen Aristide der Unterwürfigkeit gegenüber der Weltbank und dem internationalen Währungsfonds und deren liberaler Ökonomiepolitik, wohingegen andere Aristide lediglich für ein Opfer in den Fängen des amerikanischen State Departments halten. Viele Menschen aller politischen Orientierungen glauben, daß die Besatzung zu wenig und dies zu langsam in ihrer bekannten wohltätigen Art und Weise erreicht hatte.

Als ich zu dem Gebiet des Sylvio Cartor Stadions fuhr, um mir dort die Vorbereitungen für das Festival anzuschauen, war gerade ein Konvoi von UN-Soldaten auf Routinepatrouille durch die Stadt dort angekommen. Der verblüffte Kommandeur funkte ins Hauptquartier: " Wissen wir, daß ein großes Musikfestival hier im Stadion stattfinden wird? Sollen wir bei diesem Zeug für Sicherheit sorgen?" Während er auf Antwort wartete, umstellten die Panzer und Geschützträger das Festivalgelände und die Soldaten nahmen Position um die Crew herum, die hastig die Soundanlagen aufbaute und Logos der Sponsoren auf Plakattafeln pinselte, die das Stadion umsäumten. Einer dieser Sponsoren war das Ministerium für Erziehung und Kultur- eine Förderung, die sich als äußerst kontrovers herausstellte. In Haiti sind politische Zwiespälte immer tief, und alles wird politisch interpretiert (Probleme politischer Art können in kritischen Momenten eine Sache von Leben und Tod sein). Die Beteiligung eines Regierungsministeriums machte nach Ansicht vieler das Konzert zwangsläufig zu einem Lavalas (Aristides politischer Bewegung)-Ereignis.

Irgendwie wirkte das Mysterium des Festivals auch auf das Kontigent der Soldaten, denn als die Musik begann, war das Militär nicht mehr zu sehen. Sicherheitsmannschaften des Innenministeriums in freundlichen T-Shirts hatten anstelle übernommen. Eine der Sicherheitswachen, Hiliere Bernette Alexis, stellte stolz sein ehemaliges Armeeabzeichen zur Schau, auch während er zürnend von Aristides Entscheidung, die haitianische Armee aufzulösen, sprach. Immerhin hat Hiliere einen Ersatz für sein einstiges Amt gefunden, viele ehemalige Soldaten hatten nicht so viel Glück.

Das wichtigste Ergebnis des Festivals war der Eindruck davon, welche Fortschritte die roots Musik gemachte hatte. Noch fünf Jahre zuvor hätten nur vier oder fünf Gruppen (keine von ihnen mit professionellem Plattenvertrag) für solch ein Festival gewonnen werden können. 1995 mußten die an zwei Tagen stattfindenden Konzerte in halbstündige Auftritte penibelst eingeteilt werden, um jedem eine Chance zu gewähren. Mizik raisin (roots music) ist zu einer reichhaltige musikalischen Ader geworden, die Künstler von internationaler Qualität hervorgebracht hat, solche Boukman Eksperyans, Boukan Ginen, Ram, Foula, Rara Machine (die nicht am Festival teilnahmen). Neben diesen Gruppen waren auch etliche Gruppen, solche wie Kanpech, Koudyay und Wawa zum Beispiel von nationalem (haitianischer) Bekanntheitsgrad anwesend, die im carnival zwar Eindruck gemacht haten, aber selten Gelegenheit hatten bei Konzerten aufzutretengingen ließen.

Der erste Nachmittag des Konzertes begann unter wolkenverhangenem Himmel und dem Solo-Auftritt Bob Bovanos auf der Bühne, der auf seiner Gitarre spielte, seine Dreadlocks wirbeln ließ und mit traurig-heiserer Stimme sang. Bovano, ein Bob Marley-Double, der mit einem Papagei auf den Schultern durch die Gegend wandelte, kultiviert seine übersinnliche und prophetische Aura.

Nach Bovano brachten Twoup Makandal, angeführt von Drummer Frizner Augustin, ihren Vodou-Jazz mit ihren folkloristischen Tänzern aus New York, die von einigen Nordamerikanern unterstützt wurden. Ebenso aus New York stammte die rührige multikulturelle Tanzgruppe, die von Louines Louinis geleitet wird und auch nach ihr benannt war. Diese Gruppe hatte man mit einem anderen aus Drummern und Sängern bestehenden Ensemble kombiniert, das sich Rasin Kanga und den Perkussionisten und Sänger Wawa vorstellte. Wawa, bekannt auch in Übersee für eine Reihe von Aufnahmen in den 80ern namens "Roots of Haiti, Vol. 1-5" auf dem Label "Mini Records", erlebte in den Jahren nach dem Coup einen erneuten Anstieg seiner Karriere und war somit auf den Carnivalfesten dieser Tage gern gesehen.

Wawa und seine Truppe spielten unter anderem "Priye Ginen" oder "African Prayer" und verhalfen dem Festival dadurch zu einer Art Weihe. Der brillante Arrangeur Dernst Emile, der schon seit langem roots-Aufnahmen für das haitianische mini-djaz in den Staaten produzierte, hatte zum Festival eine neue Gruppe mitgebracht, in der der Bassist Ti-Nes der System Band und die äußerst beeindruckende Sängerin Yannik Etienne mitwirkten. Die Musik von Emiles Gruppe, wie auch die von Foula, verbanden einen kultivierten Jazz mit den Klängen von roots-Material. Ausländer waren ebenfalls auf dem Festival vertreten. Das schwedische Vodou-Rock Ensemble Simbi hatte zum zweiten Mal die Reise nach Haiti zum Festival angetreten und wurde wohlwollend aufgenommen, genauso wie einige nicht-haitianische Mitglieder von Twoup Makandal und Dernst Emiles Gruppe. Das Publikum schien die Bemühungen der ausländischen Musiker, haitianische Musik zu spielen, durchaus zu würdigen.

Der Headliner an diesem Wochenende war Celia Cruz, zum ersten Mal in Haiti, die Samstag Nacht ein superbes Konzert gab, bei dem sie auch das von ihr in den 50ern veröffentlichte haitianische Lied "Gede Zareyen" sang. Celia Cruz war all die Jahre in Haiti beliebt gewesen, und viele der mehr als 4000 Zuschauer kannten ihre Hits auswendig. Natürlich trafen Celias Verbindungen zur kubanischen santeria genau die Stimmung des Publikums, das gekommen war, der von einem Verwandten der santeria beeinflußten Musik (dem haitianische Vodou) zuzuhören. Die direkte Beziehungen zwischen afrikanischen Religionen in den Amerikas bestimmten das Geschehen auf der Bühne am Samstagabend. Celia Cruz wurde von einer kubanischen Band begleitet, die von Jose "El Canario" Alberto geleitet wurde, in der auch seine Töchter sangen.. El Canario und seine Gruppe steuerten einen lebhaften Set mit einem Hauch kubanischen Pomp und Glanz bei, in dem sie auch "La Gitana" (Die Zigeunerin) sangen.

Am Ende ihres Auftritts stellte Celia Cruz die 72-jährige haitianische Sängerin Martha Jean-Claude vor, die man oft mit Celia vergleicht. Jean-Claude, die 1954 von Haiti nach Kuba ging, war eine berühmte Sängerin des von Vodou inspirierten Meringue, und ihre lange Abwesenheit von Haiti (1954-1986) hatte sie zu einer beinahe legendären Figur gemacht. Heute ist Jean-Claudes Stimme etwas spröder und man mußte ihr auf die Bühne helfen, aber mit der Musik wurde sie zunehmend lebendiger und das Publikum erlebte eine kraftvolle Demonstration ihrer Urwüchsigkeit, Leidenschaft und Grazie. Ihre einstige Gesangspartnerin Emerante de Pradines Morse, die Martha 1944 dem haitianischen Publikum im Rex-Theater vorgestellt hatte, gesellte sich für einen kurzen gemeinsamen Auftritt zu ihr auf die Bühne. Man merkte Emerante ihr Alter nicht an, und sie sang mit so großer Energie, daß ein jugendlich anmutender Wettbewerb beider Sängerinnen kurzzeitig das Geschehen beherrschte.

So sangen sie "Choucoune" und "Erzulie", zwei alte haitianische Meringues, dargeboten im für ihre kurze Partnerschaft in den 40ern charakteristischen Duo Gesang, der für das Publikum eine Verbindung zu einer früheren haitianischen roots-Bewegung herstellte. Während dieser Bewegung, die in den frühen 40ern begann, bildete die Regierung ein Büro für Ethnologie, um traditionelle haitianische Kultur zu studieren, Lina Blanchet und ihre Studenten organisierten folkloristische Tanzgruppen, die Bands Jazz des Jeunes und Orchestre Issah el Sieh spielten von Vodou beeinflußte Meringues in einem Stil, den man Vodou-Jazz nannte, und der internationale Kunstmarkt entdeckte die "primitiven" haitianischen Maler. Die Rückkehr dieser beiden frühen Giganten der roots-Musik, zusammen mit der wundervollen Celia Cruz, markierten einen emotionalen, wenn nicht gar musikalischen Höhepunkt des Festivals.

Emerantes de Pradines Morse ist die Tochter einer anderen musikalisch bedeutsamen Figur, des Singer/Songwriter Kandjo (Candio, AKA Auguste Linstat Pradines), der als erster die haitianische Nationalhymne sang und viele bekannte Lieder komponierte. Sie ist auch die Mutter von Richard Morse, dem haitianisch-amerikanischen Bandleader von Ram. Passenderweise begleitete Ram ihren Auftritt, und sie begannen gerade richtig abzuräumen, als wolkenbruchartiger Regen niederging. Obwohl viele aus dem Publikum den Regen als wahren Segen sahen und ihre Arme weit öffneten, und obwohl die Band darauf bestand, weiterzuspielen, wurde das Konzert abgebrochen. Als Ausgleich wurde Ram gestattet, Sonntagnacht nochmals aufzutreten, um mit ihrem 1995er Karnevalshit den Höhepunkt zu bilden. Es war für mich war ein Highlight dieses Festivals, zu sehen wie dieses Ensemble in den letzten paar Jahren gereift ist. Richards Stimme klingt stärker und wesentlich sicherer, ebenso die seiner Frau Lunise, und die Band webt geschickt Elemente von Rock, mizik vodou und konpa ein. Ram spielten auch das Lied "Erzulie", ein sehr beliebter Meringue, der in sich ein Tribut an die Göttlichkeit der Liebe und der Sinnlichkeit ist. Morses Mutter hatte das Lied in den 40ern veröffentlicht, aber es wurde von niemandem geringeren als Morses Großvater nach seinem ersten Besuch einer Vodou-Zeremonie um die Jahrhundertwende geschrieben.

Simbi-Yo (nicht zu verwechseln mit der schwedischen Vodou-Rock Band Simbi) ist eine neue, von Veteranen der roots Musikszene geführte Band, unter anderem von Sanba Zao, einer der Begründer der Bewegung der 70er. Mit ihm in der Band (aber nicht auf der Bühne) ist der Drummer Aboudja (von der früheren Gruppe Sa), einer der Gründer des Sanba-yo in den frühen 80ern. Dernst Emile, dessen Bruder Denis ebenso einer der Vertreter der frühen roots-Musik war, schloß sich Zao und der Gruppe beim Spielen der "Djaye" an, einer Art zeremoniellem Vodou-Trance.

Einer nicht kommerziellen roots Performance am nächsten kam die eine Gruppe von rara Musikern, namens Rara Vodoule, die von Mitgliedern von Foula organisiert worden war. Mit insgesamt 30 Musikern mit Bambus-vaksin-s, Blechtrompeten, Trommeln, Rasseln und Spruchbändern war die Gruppe im Grunde identsich mit einer , die in der rara Saison in der Nachbarschaft über dem Friedhof von Port-au-Prince paradiert (identisch in soweit, als es -außer den Kostümen- die Bühnenverhältnisse zuließen).

Das Sonntags-Konzert begann sehr hitzig mit dem haitianisch-amerikanischen Artisten Papa Jube (Jube Altino) , der in mancher seiner Lieder traditionell-haitianische (insbesondere rara) Komponenten entwickelt hatte. Jubes Kommunikation mit dem Publikum war direkt und charismatisch, und seine Vortragsweise von Liedern wie "Demokrasi" (Läute die Glocke, Demokratie wird kommen", übernommen von dem Lied "Ring the Alarm" des Tenors Saw) und "Anbango" (Embargo) sorgten für einige herausragende Momente n der Dämmerung des Nachmittags.

Zusammen mit Jube repräsentierte Wyclef Jean, eines der drei Gruppenmitglieder der Fugees, die Hip-Hop-Bewegung in der haitianischen Musik. Ohne seine Kollegen von den Fugees auftretend, machte es den Anschein, daß Jean aus Solidarität mit den Musikern am Festival teilnahm, obwohl er Bedenken bezüglich des Vodou-Aspekts des Ereignisses hatte (aufgrund seiner streng protestantischen Erziehung).

Das Finale sollte nacheinander von Boukan Ginen und Boukman Eksperyans bestritten werden. Unglücklicherweise war der Sänger Eddy Francois von Boukan Ginen nicht besonders erfreut zu hören, daß sie vor seinen ehemaligen Kollegen von Boukman Eksperyans spielen sollten. Nach der großartigen Eröffnung ("Pale Pale"), nach der ihm das Publikum sozusagen aus der Hand aß, stoppte Eddy die Musik und ging dazu über, sich beim Publikum über die Bezahlung, das Programm und den Sound zu beschweren und unterstellte den Organisatoren, die Band sabotieren zu wollen. Prompt drehte er sich herum und verließ die Bühne, während der Rest der Band versuchte, das Lied zu beenden.

Nach ihrer üblichen Gebetsrunde hinter der Bühne eröffneten Boukman Eksperyans mit einem ehrfürchtig-choralen Gesang und gingen dann zu einer fesselnden Darbietung, die ihren Karnevalshit "Ke M Pa Sote" von 1990 beinhaltete, über. Zu diesem Zeitpunkt waren die Organisatoren des Festivals dazu übergegangen jeden umsonst hereingelassen, und über 10000 Menschen erfreuten sich am Carnivalsambiente des Festivalfinales. Von Boukman hörte man auch eine Beschwörung von Legba, einer Gottheit des Vodous, die die Pforten der Zeremonie bewacht und den Übergang vom weltlichen zum spirituellen Reich erlaubt.

Passenderweise sangen Boukman "Legba, öffne die Pforten für mich", als tausende begeisterter Haitianer durch die Tore strömten, um an der Feier teilzunehmen.





Gage Averill ist Professor für Musik und lateinamerikanische Studien an der Universität von New York und war außerdem acht Jahre lang Kolumnist für haitianische Musik des Beat Magazines.

Wir danken ihm für die Erlaubnis, seinen Artikel, erschienen im Beat Magazine drucken (und bearbeiten) zu dürfen und für seine freundliche Kooperation bei Verfassung des Textes.

Ebenso danken wir CCSmith, Herausgeber des Magazines für seine Erlaubnis.

Sie können dieses hervorragende Magazin unter GETTHEBEAT@aol.com beziehen.



Fußnoten von Claus Schreiner

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Copyright Gage Averill / Claus Schreiner / Tropical Music