Cartola

Cartola - sein Leben ist ein
Geschichtsbuch des Samba in Rio de Janeiro

Cartola - Divino SambaWenn außerhalb Brasiliens vom Samba die Rede ist, dann ist in der Regel der lautstarke Samba des Enredo des Carnaval gemeint. Und danach die Mulatas, vielleicht. Cartola, dem dieses Album gewidmet ist, hat sie beide geliebt: die Mulatas zuerst und dann den Carnaval. Sein Leben aber hatte er dem Samba gewidmet und das war für ihn vor allem Poesie und Gefühl, wie sie in dieser kleinen Anekdote zum Ausdruck kommt:

In einem der Stadtbezirke Rios am Fuße des Morro da Mangueira sehen wir ein altes Paar in seinem kleinen Gärtchen. Beide sind schwarz. Sie deutet auf die Rosen und sagt: 'Was ist denn mit den Rosen los, die blühen ja plötzlich so schön?'. 'Wer weiß'. entgegnet der kleine Mann mit dunkler Sonnenbrille und zarter Statur mit einem Lächeln:' die Rosen sprechen nicht.'

Die Szene liegt jetzt fast 25 Jahre zurück. Die Mitwirkenden leben nicht mehr: Dona Zica und Cartola. Cartola ist mehr als eine Legende, denn anhand seiner Biografie lässt sich die Geschichte der Musik Rio de Janeiros dieses Jarhunderts erzählen. Cartola hat sie in wesentlichen Kapiteln mitgeschrieben..

Wann immer Cartola gegen Ende seines Lebens öffentlich auftrat, wurde er mit "O Divino Cartola" - der Göttliche Cartola angekündigt. Autoren nachfolgender Generationen haben ihm in ihren Versen ein Denkmal gesetzt.

Cartola wurde am 11.Oktober 1908 im Stadtviertel Catete als eines von 8 Kindern eines Schreiners geboren, der nebenher ein bißchen Gitarre spielte. Als die Finanzlage zunehmend schlechter wurde, zog die Familie dann über Laranjeras in die Mangueira, ein buraco quente (heißes Loch auf dem Mangueira Hügel) wo damals gerade 50 Hütten standen. Cartola war da 11 Jahre alt, hatte nur ein paar Jahre die Schule besucht und viel lieber Cavaquinho bei den Umzügen der lokalen Rancho Gruppe an den Festtagen gespielt. Erst 20 Jahre später, mit 30 Jahren, begann er sich für Poesie zu interessieren.

Seine Jugend beschrieb Cartola im Nachhinein als leidvoll, denn wie sein Vater hatte auch er stets Probleme Arbeit zu finden. Er arbeitete auf dem Bau, als Druckergehifle, Steineklopfer, Hausierer und Wagenwäscher. Hilfsarbeiter war er auch noch und wieder mit 50 Jahren nachdem er längst eine Legende der Sambawelt und der Morros geworden war. Aber eine Legenden zu sein ernährt den Lebenden nicht.

Im Alter von 15 Jahren zog Cartola aus der elterlichen Hütte aus, nachdem die Mutter gestorben war, um das Leben eines jungen Menschen um 1923 zu führen: zwischen Musik und Malandragem (Halbseiden). Später erinnerte sich Cartola, er habe sich nie als Malandro gesehen, sei auch nie im Gefängnis gewesen, aber, na ja, er sei eben auf dem Morro groß geworden, ohne Hab und Gut und da...

Mit seinem Jugendfreund Carlos Cachaça gründete Cartola 1928 den Bloco (des Carnaval) dos Arangueiros in der Mangueira. Ein Jahr später wurde aus der Fusion dieses Bloco mit anderen des Morros die zweite Sambaschule Rios (nach der Portela) : G.R.E.S. ( Gremio Recreativo Escola de Samba ) Estação Primeira1 de Mangueira, die die Farben Grün und Rosa als Vereinsfarben wählte. 50 Jahre lang blieb Cartola der Mangueira verbunden, für er Namen und Farben ausgewählt hatte. Er war ihr erster musikalischer Direktor (Ala da harmonia) und es waren zunächst seine Sambas, die die Mangueira in Rio bekannt machten und somit auch ihn.

Mit 30 Jahren war Cartola berühmt und lebte von Einkünften als Bauabeiter. Die Mangueira unterlag von 1941 bis 1947 stets ihrer Erzrivalin Portela im Wettstreit um den Campeã-Titel des Carnaval und Cartolas Stern in der Mangueira sank. Als seine erste Frau Deolinda 1949 gestorben war, zog er aus der Mangueira weg nach Nilopolis und danach in die Favela von Cajú und erkrankte an Meningitis. Halbwegs genesen jobbte er wieder als Maurer, aber er war aus dem Gleis und trank bis zu 2 Flaschen Cachaça pro Tag.

Zurück auf dem Morro, fand er 1952 in Zica (Eusebia Silva do Nascimento) seine Retterin und neue Lebensgefährtin und begann wieder zu komponieren. Das Geld zum Leben verdiente er sich als Wagenwäscher in einer Garage. Für die Filmversion von Camus (Orfeu Negro) agierten Cartola und Zica in kleinen Szenen vor der Kamera, Cartola kümmerte sich um Kostüme und Zica kochte für die Crew.

Vielleicht war hier schon die Idee entstanden, ein eigenes kleines Restaurant zu eröffnen, das Zicartola, mit dem 1963 in der Rua Carioca einer der wichtigsten kulturellen Treffpunkte der Stadt geschaffen wurde. Hatte man sich vorher schon regelmäßig bei Zica und Cartola zu Hause zu Diskussionen und Sessions getroffen, nachdem Cartola mit der Wagenwaschbürste in der Hand wieder - 'entdeckt' worden war, so zog nun die Musikwelt Rios ins Zicartola um zu hören und gehört zu werden, sehen und gesehen zu werden. Das jähe Ende der Bossa Nova hatte unter den Studenten Fragen nach deren Ursprüngen entstehen lassen, nach den Leuten, die ihren Weg bereitet hatten, den Sambistas.

Im Zicartola kochte Zica und Cartola war Mittelpunkt des Geschehens. 1974 hatte Cartola mit 66 Jahren seine erste Langspielplatte aufnehmen dürfen. 1976 folgte die zweite. Für diese beiden Einspielungen stand Perreira nur ein Minimum an Aufnahmetechnik, dafür aber die Creme der Instrumentalisten Rios zur Verfügung. Von Baden Powells ehemaligen Gitarrenlehrer Meira bis zur Samba-Percussionslegende Marcal war alles dabei, was in Samba und Choro Rios den Ton angab.

Bis zu seinem Tod wurden es insgesamt 4 Alben. Auf einem Mangueira Sampler der EMI ist Cartola auch zu hören und posthum erschien auch ein Hommage-Album bei der staatlichen Funarte.

Unsere Zusammenstellung für die CD Cartola - Divino Samba erfolgte aus den beiden Marcus Perreira Alben/CD's und den zwei LPs bei der damaligen RCA, die bis heute in Brasilien als CD nicht wiederveröffentlicht wurden.

Claus Schreiner

(Linernotes zu 'Divino Samba', gekürzt / P C 1999 beim Autor)

 

Die Idee zu diesem Album-Projekt habe ich schon viele Jahre mit mir herumgetragen - eigentlich seit dem Tag, an dem ich Cartola zum ersten Mal in der Noitada do Samba in Rio erlebt hatte. Über viele Jahre waren die Originalaufnahmen von Marcus Perreira nicht erreichbar und erst mit dem Verkauf an die EMI ergab sich eine Möglichkeit der neuen Auswertung. Wir haben die alten und technisch nicht sehr brillanten Aufnahmen digital neu mastern lassen und sind stolz ein Ergebnis erzielt zu haben, das sich hören lassen kann.

Für mich ist Cartola, von dem ich besonders seine Samba-Canções ausgewählt habe, eine Art Bindeglied zwischen Chavela Vargas aus Mexiko und Cesaria Evora von den Kapverden, um in einem vetrauten Kreis zu bleiben. Cartolas Instrumental-Background atmet den leichtfüßigen Swing kapverdischer Musik (obwohl der Einfluss sicher in umgekehrter Richtung gelaufen ist), seine Melodien und Texte offenbaren Gefühlswelten wie die Lieder der Chavela Vargas und er liegt stimmlich eben zwischen diesen beiden: mal fließt der Ton butterweich und locker, mal knarzt die Stimme vor Emotion.

Cartola hören bedeutet die ganze Musik Rio de Janeiros des 20.Jahrhunderts zu erleben und zu verstehen.

Claus Schreiner

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